Durch die besondere Aufenthaltssituation von Familien mit Fluchterfahrung und/oder Migrationsgeschichte kann es zu Abschiebungen von Kindern und deren Familien kommen, die sich bereits gut eingelebt haben. Diese unplanmäßigen Abschiede – oft ohne jede Gestaltungsmöglichkeit durch die pädagogischen Fachkräfte – sind für alle Beteiligten schwierig. Die pädagogischen Fachkräfte müssen diese Beziehungsabbrüche für sich verarbeiten. Gleichzeitig stehen sie vor der Herausforderung, den anderen Kindern das Wegbleiben angemessen zu erklären. Die AWO Integrative Kindertageseinrichtung „Knirpsensland” in Pirna ist von dieser schwierigen Situation ganz akut betroffen. Wir haben die Leiterin der Einrichtung gefragt, wie die Kolleg:innen und Kinder vor Ort mit dieser Situation umgehen.
Themenbeiträge
Willkommen und Abschied – wenn eine drohende Abschiebung Realität wird

Hintergrund
Viele Kinder der Kita „Knirpsenland“ bzw. deren Familien haben Fluchterfahrung und/oder Migrationsgeschichte. Um den Herausforderungen von Vielfalt und kulturellen Besonderheiten gerecht zu werden und gute pädagogische Arbeit leisten zu können, nutzt die Einrichtung die Unterstützung durch verschiedene Programme.
Seit Anfang 2020 nimmt die Kita “Knirpsenland” auch am Programm WillkommensKITAs teil und erfährt unter anderem durch die Einrichtungsbegleitung individuelle Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Vorhaben und der Weiterentwicklung der eigenen professionellen Arbeit und Haltung.
In der Nacht vom 10. Juni 2021 wurde eine neunköpfige Familie, deren Kinder in den letzten Jahren die Einrichtung besuchten, aus ihrer Wohnung geholt und nach Georgien abgeschoben. Die Familie hatte fast zehn Jahre in Pirna gelebt.
Was bedeutet die Abschiebung der Familie für die Kita?
Im Gespräch mit Ramona Fiebig, der Leiterin der Einrichtung AWO Integrative Kindertageseinrichtung „Knirpsenland“ merkt man wie sehr sie das Schicksal der Familie bewegt und wie sehr ihr das Wohlbefinden ALLER Kinder und deren Familien am Herzen liegt. Fragen nach Menschenwürde, Kindeswohl und Kinderrechten kommen auf.
Doch nicht nur die Familie selbst ist betroffen. Auch in der Kita haben die Abschiebung und Abwesenheit der Familie sowohl bei den anderen Kindern als auch bei den pädagogischen Fachkräften Fragen, Ängste, Trauer und Hilflosigkeit hervorgerufen.
Auf der anderen Seite hat die Situation aber auch Mut und Energie freigemacht. Mit großem Engagement setzt sich das Team der Kindertageseinrichtung für die Familie ein, ohne dabei die zurückgebliebenen Kinder und deren Familien aus dem Blick zu verlieren.
Seit der Abschiebung haben Ramona Fiebig und Ihr Team viel unternommen. Neben den Bemühungen die Rückkehr der Familie zu bewirken, liegt der Fokus ganz auf der Aufarbeitung des Themas mit den anderen Kindern. Sie sind diejenigen, die jetzt besondere Zuwendung und Aufmerksamkeit von den pädagogischen Fachkräften brauchen, denn viele Kinder in der Kita “Knirpsenland” sind in einer ähnlichen Situation wie die abgeschobene Familie. Auch Ihre Familien werden in Deutschland nur geduldet.
Die Abschiebung hat bei diesen Kindern Verschiedenes ausgelöst. Sie sind zum Teil ängstlich oder verunsichert aufgrund einer Situation, die sie nicht verstehen. Durch ihr familiäres Umfeld werden diese Gefühle teilweise noch verstärkt. Auch hier ist die Angst vor Abschiebung präsent. Einige dieser Familien befinden sich in ständiger Bewegung und Unruhe: Umzüge, Abschiebungen, Familienzusammenführungen und ähnliche Situationen prägen ihr Leben.
Deshalb hat es sich das Kita-Team zur Aufgabe gemacht, die Familien bezüglich ihres Aufenthaltstitels aufzuklären und an entsprechende Stellen zu verweisen: “Duldung, Beschäftigungsverordnung, eigene Versichertenkarte, das ist alles Augenwischerei”, so Ramona Fiebig. “Familien, die sich im Asylverfahren befinden oder eine Flucht- und/oder Migrationsgeschichte haben, haben oft aufgrund von Unwissenheit keine Möglichkeit die Rechtsmittel auszuschöpfen.” Sollte eine Familie nun einen besonderen Beratungs- und Unterstützungsbedarf haben, findet sie durch die Vermittlung der Kita geeignete Ansprechpartner:innen.
Was hilft? - Verlässliche Beziehungen, Partizipation, Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen
Alle Kinder in der Kita „Knirpsenland“ erfahren Liebe, Zugewandtheit und ein offenes Ohr für Ihre Fragen. Die pädagogischen Fachkräfte bemühen sich gemeinsam mit den Kindern zu verstehen was geschehen ist. “Die Kinder können jederzeit zu uns kommen, darüber sprechen oder eigene Fragen und Themen einbringen. Wir sind für sie da, für jedes einzelne Kind.” Selbst aktiv zu werden hilft den Kindern das Erlebte zu verarbeiten. In ihrer Einrichtung finden sie einen Rahmen, der ihnen das ermöglicht und ihr Vertrauen wieder wachsen lässt, auch wenn es Zeit braucht.
Und wie geht es den Erwachsenen? Wie können die pädagogischen Fachkräfte die Situation für sich und im Team bearbeiten und die nötige professionelle Distanz wahren? Wie gelingt es ihnen (trotz ungeklärter Bleibeperspektive mancher Kinder), sich weiterhin bei jedem Kind auf eine intensive Beziehung einzulassen? “Wir stützen uns gegenseitig und sind füreinander da” erläutert Ramona Fiebig die Lage der Fachkräfte.
Und auch ganz praktische Entscheidungen helfen, mit der persönlichen Betroffenheit umzugehen: “Heute habe ich die Kinder vom Essen abgemeldet. Aber ihre Jacken hängen noch in der Garderobe. Würden wir sie abhängen, hätten wir das Gefühl, die Hoffnung auf ihre Rückkehr zu verlieren. Das möchten wir nicht!”.
Weiterführendes
Weitere Informationen zu den Themen Willkommen und Abschied und Kita und Hort als sicherer Ort finden Sie in unseren Arbeitsmaterialien „Wege zur WillkommensKITA“.
Wenn Sie das Engagement des Kita-Teams für die betroffene Familie unterstützen wollen, finden Sie hier den Link zu der Petition "Bring back our neighbours"