Ein großer Raum voller Leben: Eine Neunjährige schlägt Rad und ein paar Jungen hüpfen wild über Matten. „Hier kommen sie erst einmal an“, sagt Sozialpädagogin Jana Knüpfer, die gerade den Sportraum betritt. Sie zeigt auf eine Kletterwand rechts, eine Sprossenwand links, Matten und Spiegel.
Seit 2013 leitet die 48-Jährige den Hort der Grundschule Kuntzehöhe in Plauen im Vogtland. Wenn sie vom Ankommen spricht, meint sie nicht ausschließlich, aber insbesondere die Kinder geflüchteter Familien. 36 von 155 Kindern in ihrer Betreuung stammen aus Familien mit Kriegs- und Fluchterfahrungen. Sie mussten ihr Land verlassen – unter anderem Pakistan, Syrien und den Iran.
Fuß fassen in Deutschland
Recht schnell eingegliedert wurden die schulpflichtigen Kinder in Vorbereitungsklassen, sogenannten Deutsch als Zweitsprache (DaZ)-Klassen. Dort geht es hauptsächlich darum, Deutsch zu lernen und die deutsche Kultur besser zu verstehen. Ihre erste Anlaufstelle nach dem Unterricht, wo sie meistens stillsitzen müssen, finden die Kinder in dem Sportraum des Horts. Hier geht es endlich um sie, hier können die Jungen und Mädchen ihren Stress abbauen und herumtoben. Und hier finden sie eine Erzieherin als Bezugsperson, die ihnen einen Raum zum Wohlfühlen schaffen möchte. Ab halb elf haben die geflüchteten Kinder den Hort für sich. Eine Stunde lang sind sie ungestört und können ankommen. Dann kommen die übrigen Schülerinnen und Schüler dazu.
Wenn ein neues Kind zum ersten Mal diese Räume betritt, kann es sich auch schon mal verlaufen. Weitläufig erstreckt sich das Areal über das Erdgeschoss der Grundschule – und hat den Kindern eine Menge zu bieten. „Carpe Diem“ steht über dem Eingang zum Atelier mit Werkbank und Staffelei. Das Atelier schließt sich an den Speisesaal an, in dem es immer auch ein vegetarisches oder ein Hühnchen-Gericht gibt. In einem Bauraum gibt es Lego-Steine, ein Theaterraum bietet Bühne und Bänke. Ein Raum für Rollenspiele, einer zum Entspannen und der idyllische Garten mit Bolzplatz runden das Angebot ab. Die Aufteilung der Räume ändert sich gerade: Die Kinder geflüchteter Familien und die Viertklässler sollen ihre eigene Aufenthaltsmöglichkeit erhalten. Jede dieser beiden Gruppen hat ein eigenes, nachvollziehbares Bedürfnis nach Ruhe zwischendurch, dem der Hort auf diese Weise Rechnung trägt.
Bedürfnis nach enger Struktur
Auch gibt es hier im Hort keine vorgegebenen Beschäftigungen. Jana Knüpfer und ihre Kolleginnen machen jedoch Angebote. Hat ein Kind keine Lust teilzunehmen, beschäftigt es sich eben mit anderem Spielzeug.
„Hier haben sie noch die Möglichkeit, einfach zu spielen, ohne dass ihnen jemand reinredet“, erklärt die Hortleiterin. Das offene Konzept und die damit verbundene Selbstbestimmung habe die geflüchteten Kinder anfangs mitunter überfordert. „Für sie war wichtig, dass ihnen jemand enge Regeln setzt, Vorgaben macht und sie an die Hand nimmt, weil sie es nicht anders kannten“, beschreibt die Leiterin die Situation.
Dieses Bedürfnis nach enger Struktur floss in die Gestaltung der Eingewöhnungsphase ein. Gestaffelt über ein Vierteljahr finden die geflüchteten Kinder ihren Platz im Hort: Im ersten Monat bleiben sie höchstens anderthalb Stunden, im zweiten knapp drei und erst danach viereinhalb Stunden, bis spätestens 15 Uhr. Das offene Konzept der Einrichtung ermöglicht dieses strenge Korsett und zugleich dessen Lockerung. Es orientiert sich dabei an dem, was den Kindern guttut.
Jana Knüpfer erklärt die flexible Eingewöhnung am Beispiel Hanif: Ein zarter Junge, der anfangs nur geweint hat. „Er hat nichts gegessen. Er kannte es nicht, von seinem Bruder getrennt zu sein. Wir haben dann mit den Eltern zusammengesessen und ihnen erklärt, wie es ihrem Sohn geht, und überlegt, wie wir ihm helfen können.“ Der Vater sei dann jeden Tag im Hort gewesen und habe Hanif die gesamte Eingewöhnung begleitet. „Schon bald kam der Mann zu uns und teilte überrascht mit, dass sein Sohn gar nicht mehr mit nach Hause gehen wolle.“ Denn Hanif war endlich im Hort angekommen.
Beziehung statt Erziehung
In Zeiten der Hektik selbst ruhig zu bleiben und anderen obendrein Ruhe zu ermöglichen, das war für das Team in Plauen ein langer Weg, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Seit 2016 nimmt der Hort am Modellprogramm WillkommensKITAs teil. Die elf Pädagoginnen erhalten seit einem Jahr Unterstützung durch eine Einrichtungsbegleiterin. In regelmäßigen Treffen mit ihr und bei Weiterbildungen suchen die Fachkräfte Lösungen für pädagogische Herausforderungen und reflektieren ihr Handeln. Die „Integration geflüchteter Kinder“, die „Kommunikation mit deren Eltern“ und insbesondere die „Sensibilisierung hier lebender Kinder“ hatte Jana Knüpfer als Motivation in ihrer Bewerbung für das Programm angegeben.
Die besten Lösungen, sagt die Hortleiterin, ergaben sich zunächst durch Zufall: Ein deutsch-arabisches Wörterbuch habe sie beispielsweise kaufen wollen – dabei sei sie auf eine engagierte Buchhändlerin getroffen. Diese vermittelte den Kontakt zu einem syrischen Akademiker. Der wiederum fühlte sich bei einem vom Hort organisierten arabischen Kochen so wohl, dass er fortan ehrenamtlich zwei Stunden täglich die Hortarbeit unterstützte. Als Ansprechpartner für die arabischen Kinder und ihre Eltern wurde er ein wichtiger Partner. Über das Modellprogramm WillkommensKITAs fand sich ein Weg, um sein Engagement als Dolmetscher auch finanziell zu würdigen.
Blick über den Tellerrand
„Wir haben in den Medien gesehen, was mit den Menschen auf der Flucht passiert ist. Insbesondere Kinder tragen das mit sich und müssen es aushalten. Natürlich haben wir uns gefragt, wie belastet sie zu uns kommen und wie viel wir ihnen davon wirklich abnehmen können“, sagt Jana Knüpfer.
Viele Kinder waren zu Beginn ängstlich, manche aggressiv oder verunsichert – nicht nur durch Krieg und Flucht, sondern auch durch eine Situation, die sie nicht verstanden. Es war wichtig, alle anderen Kinder einzubeziehen und mit ihnen das Gespräch zu suchen: „Wir erklären den einheimischen Kindern immer: Stellt euch vor, ihr kommt in ein anderes Land. Ihr versteht nichts, euch versteht niemand, ihr müsst etwas essen, das ihr in eurem ganzen Leben noch nie gegessen oder gerochen habt, und die Menschen sind obendrein ganz anders. Was das für eine Herausforderung ist!“, sagt die Hortleiterin.