Ohne Vorwarnung wurde die Kita Kinderland im November 2015 ins kalte Wasser geworfen. Zwei geflüchtete Väter aus Afghanistan standen vor der Tür und wollten ihre Kinder anmelden. Sie sprachen kein Wort Deutsch und natürlich konnte keiner aus dem Team der Dorf-Kita in der Hohen Börde nahe Magdeburg ein Wort Dari. Auch nach unzähligen Telefonaten mit Träger, Ämtern und Behörden blieb die Lage unklar und es konnte kein Dolmetscher aufgetrieben werden. „Also haben wir versucht, uns mit Händen und Füßen und aus dem Internet heruntergeladenen Piktogrammen zu verständigen“, erzählt Kitaleiterin Marlies Böttcher.
Der kleine Ali* und die kleine Nesrin* waren die ersten Kinder mit Fluchthintergrund und die ersten Kinder mit muslimischen Eltern in der Kita, die in vier Gruppen 67 Mädchen und Jungen betreut. Erstaunt fragten die anderen Kinder daraufhin die Erzieherinnen, warum die Mütter ein Kopftuch tragen und die Kinder kein Schweinefleisch essen dürfen. Die Erzieherinnen haben sich daraufhin intensiv mit den Fragen der Kinder auseinandergesetzt und versucht, alles kindgerecht zu beantworten.
Tolle Unterstützung durch das Programm
Gerade zum richtigen Zeitpunkt kam dann die Teilnahme am Programm WillkommensKITAs. „Das war und ist eine tolle Unterstützung. Für uns war der Umgang mit geflüchteten Kindern völliges Neuland und durch das Programm haben wir über Fortbildungen und Materialien professionelle Hilfe bekommen. Das reichte von rechtlichen Rahmenbedingungen über interkulturelles Wissen bis hin zur Förderung der Mehrsprachigkeit“, erläutert Kitaleiterin Böttcher. „Schritt für Schritt haben mein Team und ich uns dem Thema Vielfalt angenähert. Zunehmend wussten wir, worauf wir beispielsweise beim Essen achten müssen und sind sicherer in unserer Interaktion mit den Kindern geworden“, fügt sie hinzu. Wichtig waren für sie auch die großen Vernetzungstreffen im Rahmen des Programms, bei denen sie sich mit anderen pädagogischen Fachkräften über Herausforderungen und Herangehensweisen austauschen konnte.
Im Umgang mit den beiden afghanischen Kindern und ihren Familien setzte die pragmatische und zupackende Marlies Böttcher zunächst auf Erfindungsreichtum. Außerdem kam ihr schon bestehendes Netzwerk aus Kirche, Förder- und Kulturverein und Landfrauen zum Einsatz. So versorgte sie die beiden afghanischen Familien zunächst mit Bettwäsche, Kleidung und anderen dringend benötigten Alltagsgegenständen. Später baute die Kita ihr Netzwerk mit Unterstützung des Programms WillkommensKITAs systematisch weiter aus. Ämter, Behörden, Sportvereine, Kitas und Schulen sind nun mit dabei. Im Rahmen eines „Runden Tisches Migration“ wurde schließlich ein eigenes Integrationskonzept für die Einheitsgemeinde erarbeitet.
Eigenes Integrationskonzept für die Einheitsgemeinde
„In unserem Dorf haben wir bereits viele Vorbehalte ausgeräumt“, erzählt Kitaleiterin Böttcher. Mithilfe der Beteiligung der Kinder und ihrer Familien an Dorf- und Familienfesten, am „Oma- und Opa-Fest“, am Weihnachtsmarkt oder am Krippenspiel lernten sich die einheimischen und geflüchteten Familien besser kennen und verstehen. Das „Quassel-Café“ und das „Fest der Kulturen“ boten weitere Gelegenheiten, um sich besser kennenzulernen und auszutauschen. Wichtig bei allen Aktivitäten ist für die Kitaleiterin immer, den Eindruck zu vermeiden, dass Familien mit Fluchthintergrund in irgendeiner Weise besser behandelt werden würden.
Unterschiedliche Erfahrungen
Bei der Integration von Ali und Nesrin in den Kita-Alltag berichtet Marlies Böttcher von zwei ganz unterschiedlichen Erfahrungen: So zog sich die Eingewöhnung von Ali über Monate hin. Die Erzieherinnen kümmerten sich liebevoll um ihn. Er wollte trotzdem keinen Schritt von der Seite seiner Eltern weichen. Die anderen Kinder boten Ali immer wieder Spielmöglichkeiten an. Aber es dauerte lange bis er nach und nach auftaute. Irgendwann entstanden jedoch sogar Freundschaften mit den anderen Kindern. Bei der Arbeit mit Ali waren die WillkommensKITAs-Materialien sehr hilfreich, da sie die Kommunikation mit ihm vereinfachten. So kamen zu Beginn insbesondere die Piktogramme zum Einsatz. Am Ende haben sich die Geduld und der Einsatz der Erzieherinnen ausgezahlt.
Bei Nesrin und ihren sehr engagierten und interessierten Eltern, die jeden Tag zu Fuß aus ihrer drei Kilometer entfernten Wohnstätte kamen, verlief die Eingewöhnung viel unproblematischer. „Von Anfang an zeigte sie sich sehr offen, aktiv und wissbegierig und nach relativ kurzer Zeit hat sie schon für uns gedolmetscht“, sagt Kitaleiterin Böttcher. Auch kleine Alltagsprobleme wie die Weigerung, sich beim Schlafengehen auszuziehen, konnten schnell mit Kompromissen („wenigstens die dicke Jacke ausziehen“) gelöst werden.
„Jedes Kind ist anders, nur darin sind sich alle gleich“ – unter diesem Motto ist der Umgang mit Vielfalt für Marlies Böttcher und ihr Team mittlerweile ganz selbstverständlich und unabhängig von der Herkunft. Wichtig ist für sie dabei immer, individuell auf jedes Kind einzugehen und feinfühlig ihre Ausgangslagen und Bedürfnisse im Blick zu haben.
* Namen von der Redaktion geändert